Freitag, 29. Juli 2011
Möchtegern-Männer und die Farbe Pink II
Doch als sie später in ihrem Bett lag konnte Anni einfach nicht schlafen.
Sie wurde das bedrückende Gefühl einfach nicht los, Brad im Stich gelassen zuhaben.
Denn obwohl er ja ihr Vorgesetzter war, fühlte sie sich irgendwie für ihn verantwortlich.
Ob er wohl noch wach war?
Was für eine Frage!
Brad Newman war der bekloppteste Nachtmensch überhaupt.
Niemals könnte er nach einer solchen Party sofort schlafen gehen!
Anni beschloss noch einmal die fünf Blocks zu ihm herüber zu gehen.
Dann beschloss die, dass das eine dumme Idee war und legte sich wieder zurück in ihr Bett.
Nicht mal eine Minute verging und sie hatte sich wieder umentschieden.
Sie würde gehen.
Aber sie konnte nicht.
So ging das noch etwa siebzehn Mal hin und her, bis sie sich selbst fragte, was sie hier eigentlich für eine Freakshow abziehe, beschloss sich gleich morgen früh im Irrenhaus anzumelden, Schlüssel und Mantel und selbstverständlich das erbeutete Büchlein mitnahm und die Tür hinter sich zuzog.
Wieder strömte ihr kühle Luft entgegen, doch diesmal empfand Anni sie eher als negativ.
Sie konnte es nicht erwarten in Brads warmer Wohnung zu sitzen, einen Kaffee oder ihretwegen auch den neuesten Chai-Latte-Trend (es war schließlich Brad) zu schlürfen und über die erfolgreiche Mission von heute Abend zu reden.
Da sie die Tücken der uralten kaputten Türklingel, dessen Signal statt nur in der Wohnung, im gesamten Hausflur zu hören war, nur zu gut kannte, kramte sie sofort den Schlüssel , den Brad ihr „für absolute Notfälle“ anvertraut hatte, aus ihrer Hosentasche und schloss auf, um die armen Nachbarn nicht um vier Uhr morgens noch zu wecken, vor allem nicht das nette, alte Ehepaar Meyer, dessen Leben durch Brads Anwesenheit im Haus ohnehin schon schwer genug war.
Tatsächlich sah sie in Brads Wohnung noch Licht brennen, er war also noch wach.

Als Anni ins Wohn-Esszimmer von Brads Wohnung (den „Salon“, wie er es zu nennen pflegte) eintrat,
hörte sie eine eigentümliche Mischung aus Schreien und Aufstöhnen aus einem der hinteren Zimmer, vermutlich Brads Schlafzimmer.
„Oh, mein Gott, Brad!“
Voller Sorge um ihren Chef, Partner, Freund, was auch immer, und ohne weiter darüber nachzudenken rannte sie in die Richtung aus der das Geräusch gekommen war stieß mit einem Ruck die Tür auf und…
Und erstarrte.
Sie hatte mit vielem gerechnet, Qualen aller Art, aber nicht damit.
Vollkommen unversehrt lag Brad dort inmitten seiner roten „Möchtegern-Hugh-Heffner“ Satinbettwäsche- und er war nicht allein.
Über ihm kniete eine Platinblonde Mitzwanzigerin, die sich voller Scham ihre –ohnehin unechten- Brüste zu bedecken versuchte.
Natürlich hatte er die einzige Frau unter 45 auf dieser Party gefunden und gleich mit nach Hause genommen. Blondie Takeout- immer frisch, immer knackig, für den kleinen Appetit zwischendurch.
Eine gefühlte Ewigkeit lang sagte niemand ein Wort.
Es war Brad, der zuerst seine Sprache wiedergefunden hatte.
„Anni?“
Da erwachte auch Anni aus ihrer Trance.
„Ich habe dir das Buch mitgebracht.“
Und sie nahm es langsam aus ihrer Manteltasche und ließ es einfach zu Boden fallen.
„Das ist eine merkwürdige Situation.“, stellte sie noch fest, dann drehte sie sich um und verließ seine Wohnung.

Den ganzen Nachhauseweg lang konnte Anni die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Wahrscheinlich aus Scham.
Wusste sie jetzt schon nicht einmal mehr, wie sich Sex anhörte?
War sie wirklich so lange Single gewesen?
Und doch war das nicht alles.
Als sie da in seiner Wohnung im Türrahmen gestanden hatte, war sie mehr als nur peinlich berührt gewesen. Es war ein schreckliches Gefühl durch sie gefahren, so als hätte sich ein Riss durch ihr gesamtes Inneres gezogen.
Das war lächerlich. Natürlich hätte ihr klar sein müssen, dass Brad ein Sexualleben hatte.
Man konnte sagen, was man wollte, aber gut aussehen tat er und die Frauen hatten einen Narren an ihm gefressen. Aber es zu sehen war etwas Anderes, als es eigentlich zu wissen.
Und dann auch noch mit einer Frau, die für Anni den Inbegriff alldessen verkörperte, was sie hasste.
Das war wohl das größte Problem.
Unter all seinem prahlerischen Gehabe, hatte Anni irgendwie doch mehr Stil vermutet, sie hatte ihn für wählerischer, ja anspruchsvoller gehalten.
Offensichtlich hatte sie ihn für etwas gehalten, das er nicht war.
Und das tat weh, verdammt sogar.
Und die kühle Nachtluft, die sie nur Stunden zuvor noch so genossen hatte,
peitsche nun in kräftigen Windstößen, als würde selbst die Natur sie verachten, auf Annis tränennasse Wangen ein.

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